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Yankee Land. Eine Reise durch Amerika 1924

Ein Buchtipp für Amerikaliebhaber, von den Autoren der Reisebücher „USA-Ostküste“ und „USA-Westen“ und anderer Reiseführer bei Iwanowski, Dr. Margit Brinke und Dr. Peter Kränzle, Jan. 2020

Inhalte

Alfred Kerr gilt als der einflussreichste deutsche Kritiker und Essayist des frühen 20. Jahrhunderts. 1867 in Breslau als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren, studierte er in Breslau und Berlin, wo er seit 1887 lebte und vor allem Theaterkritiken für große Zeitungen wie das Berliner Tagblatt und Zeitschriften, z. B. das „Magazin für Literatur“, verfasste. Seine Bücher fielen 1933 der Bücherverbrennung durch die Nazis zum Opfer und Kerr selbst floh über die Schweiz und Paris nach London. Im Exil fungierte er 1941 bis 1947 als Präsident des Deutschen P.E.N.-Clubs und starb 1948 als britischer Staatsbürger während einer Vortragsreise in Hamburg.

Eine Reise durchs Yankee-Land Amerika

Kerrs Reisetagebuch „Yankee-Land“ ist nun nach über 90 Jahren neu im Aufbau Verlag Berlin unter dem Titel „Yankee Land. Eine Reise durch Amerika 1924“ erschienen, herausgegeben von Günther Rühle, 25 Jahre Kulturredakteur der FAZ, Intendant am Schauspiel Frankfurt und Feuilletonchef des Berliner „Tagesspiegels“. Das Buch handelt von Kerrs dritter Amerikareise im Jahr 1924, der Besuche 1914 und 1922 vorausgegangen sind. Mit seiner Frau Julia und vermutlich finanziert vom Verlag Mosse, in dem 1925 die einzige Buchausgabe über diese Reise von New York bis Los Angeles erschien, war er erneut unterwegs.
Wer das kleine, schön in Leinen gebundene und mit Lesebändchen versehene Bändchen zur Hand nimmt, wird sich anfangs über den ungewöhnlich wirkenden, exzentrisch-stakkatohaften Stil wundern, der zugleich kritische Momentaufnahme und Zeitzeugnis ist. Sofort wird jedoch auch klar, dass Kerr ein absoluter Amerika-Fan ist und die damals vielgescholtene Nation in Schutz nimmt. Er verehrt Land und Leute, zeigt sich begeistert von den atemberaubenden Naturschauspielen und schätzt Wagemut, Pragmatismus und Offenheit der Amerikaner. Kerr ist überzeugt, dass dem Land die Zukunft gehöre: „Denn in diesem Land ist beides, was der wahre Mensch braucht: verschwenderisches Geblüh’ – und wagnisernster Geist. Darin, in den zwei Punkten, ruht kurzweg das Wesen Amerikas: Naturkraft plus Kraftnatur. Und ich grüße das alles … im Herzen meines Herzens.“

Vom Weißen Haus zu grandiosen Naturwundern

Vieles liegt hinter mir. Nach der Seefahrt – welche Landreisen! Der Weg vom Atlantischen zum Stillen Ozean. Nicht in einem Hieb, sondern mit Wanderfahrten, Wunderfahrten kreuz und quer.“

Kerr besucht bedeutende Städte wie Washington D.C., Los Angeles, San Francisco, Seattle, Chicago oder die Mormonenstadt Salt Lake City, bereist Landstriche wie die Prärie und Texas, Kalifornien oder den pazifischen Nordwesten. Und natürlich zog es ihn zu den legendären Naturwundern wie Grand Canyon, Yosemite oder Yellowstone National Park. Über sein eigentlich nicht ungewöhnliches touristisches Programm berichtet Kerr in wortgewaltigen, euphorischen „Bausteinen“, zunächst im „Berliner Tageblatt“, anschließend im Buch „Yankee-Land“.


Erster Höhepunkt zu Beginn der großen Tour: der Empfang bei Präsident Calvin Coolidge im Weißen Haus, der sich jedoch als ziemlich trockener Zeitgenosse erweist und „ununterbrechlich spricht … Tonlos-ernst.“ In der Hauptstadt Washington bewundert er natürlich auch das „Marmor-Panoptikum“ im Kapitol. Er erklärt dem Leser, dass Phoenix „Phienix“ gesprochen wird und dass man in den Staat Texas Deutschland hineinstecken könne… „Halb Italien auch noch“.

Grand Canyon

Seine Begeisterung über den Grand Canyon beschreibt er so: „Die Erde hat hier einen Riss. Ein Stück Oberfläche geborsten; zerknallt. Man guckt ins Innere … Wie der Querschnitt … eines Brustkastens“. Das Yosemite-Tal ist für Kerr das „stärkste Naturspiel in der Neuen Welt“, und so groß wie das Ex-Großherzogtum Hessen. Mirror Lake und „Big Trees“, die nach Präsidenten und Literaten (wie Mark Twain) benannt sind, Bären und eine Landschaft, dass der Atem stockt, begeistern den Autor.

Fluschseligkeiten und prunkvornehme Städte


Südkalifornien ist für Kerr „Quillseligkeiten, Fluschseligkeiten, Triefseligkeiten, Saftseligkeiten. Daneben Tanks und Stahlwerke.“ Er schreibt, wundert sich und vergleicht: In San Diego ist der Balboa Park für ihn kein Park, sondern eine Wildnis, die grenznahe Stadt Tijuana ist nur wenig kleiner als Winsen a. d. Luhe, scheint aber überaus beliebt.


San Francisco ist für Alfred Kerr „eine der reichsten, schmuckfeinsten, weltlichsten, prunkvornehmsten irdischen Städte … Die goldne Stadt. Rasch sind Nebel und Kühle. Der Ozean grimmt.“. Er erkundet San Francisco ausführlich, besonders die „Ostasienviertel“, geht in Tempel, Wohltätigkeitsgesellschaften und „Esshäuser“, „wo Nudliges mit langen Holzstäben geschmaust wird.“


Portland/Oregon steht für Holzindustrie, Lachs-Konserven und die Verschiffung von Getreide, Seattle repräsentiert hingegen den „Neuen Nordwesten“, ist „ein Wassernest von Weltbelang“ – und mit großer Zukunft. In Salt Lake City, der Mormonenstadt, reflektiert Kerr ausführlich über den Engel Moroni, Brigham Young und Religion im Allgemeinen, über die biblische grandiose Landschaft, Polygamie und die Rolle der Frau.

Boston Sate Capitol

Er hört ein Orgelkonzert im Tabernakel und sieht den Salzsee, ehe er weiter zum Yellowstone reist, wo er über den amerikanischen Botschafter in Berlin eine Sondergenehmigung zur Durchquerung im Mai (noch bei Schnee) erwirkt hat.
Chicago ist für Kerr ein „Riesenhauf entschlossener Menschen-Ameisen“, Boston hingegen wirkt auf ihn wie eine nordfranzösische Stadt mit Rokokoarchitektur, „oft eng und mit Gewühl und krummstraßig“. Von dort geht es mit dem Schiff nach New York und zurück nach Europa.

 

Stilistisches Unikum

Beinahe noch beachtlicher als die Beschreibungen selbst, die euphorisch-mitreißend sind, ist der Stil, amüsant und unterhaltsam und ein kulturhistorisches Kuriosum. Es werden Phrasen gedrescht und Sensationen in höchsten Tönen bejubelt. Sprachkapriolen (für die Kerr in seinen Theaterkritiken berühmt-berüchtigt war), neue Wortkreationen und bildhafte Beschreibungen mit der Tendenz zum Extremen, prägen die Schilderungen. Da ist von „krass-brutalen Wuchtwänden“ und „nackter Riesensturz-Kahlheit“ im Yosemite-Nationalpark die Rede. Eine Eisenbahnfahrt in Arizona beschreibt Kerr so: „Die Achse grunzt. Die Schiene rülpst. Eine Dinosaurier-Lokomotive, wie ein übergroßes Sprungtier, schnauft. Der Zug hält. Es ist drei Uhr nachmittags. Die Schwüle schwält …“

Nachdenklich stimmen bzw. Verwirrung stiften manche Betrachtungen zu Rassen oder Ethnien, besonders zu Indianern, Asiaten oder Afroamerikanern, die jedoch großteils der Zeit (und Unwissenheit) geschuldet sind. Er besucht Indianerschulen auf Reservaten und schreibt unter anderem: „Eine andere school wird vom Staat betreut … für achthundert Indianermädel. … Sie kommen aus dem Schutzgebiet für Rothäute, den reservations. (Wo man sie museumshaft möglichst im Naturzustand leben lässt – wie im Yellowstone-Park die Tiere.) …“ Eine Totem-Säule im Nordwesten schildert er als „bunt, mit kanakenhaft anmutendem Ungetüm-Zierrra … ein Ding des Aberglaubens … Das Pfahl-Mal ist für die Indianer ein Qual-Mal“.
Theater, Literatur und Musik beschäftigen den Theaterkritiker Kerr seltsamerweise kaum, wohingegen er Wert legt auf die Darstellung der Vereinigten Staaten im Hinblick auf ihre welthistorische Rolle. Statt – wie andere Literaten – die hochstehende deutsche Kultur hervorzuheben und die Oberflächlichkeit des neuen Kontinents zu betonen, steht für ihn Amerika anders als das verbissen kleinkarierte Europa an der Spitze der historischen Entwicklung.

Amerika, du hast es besser Als unser Kontinent, das alte, …

… so schrieb Anfang des 19. Jahrhunderts Johann Wolfgang von Goethe. Noch deutlicher und wortreicher tritt Kerrs Amerikaliebe zum Vorschein und obwohl er zugibt, in einem „Englisch-über-Stock-und-Stein“ zu kommunizieren, scheint er tiefen Einblick gewonnen zu haben: „Amerika zeigt mit ordentlichen Ländern wenig Verwandtschaft – in der Natur. Es hat in sich: Kanarisches, Italienisches, Halbsibirisches, Südfranzösisches – und sonst was. Zum Exzess neigt es.“

Und, er wünscht sich, dass ein wenig amerikanische Mentalität in die Alte Welt überschwappen würde: „Ach, für eine Weile sollten in der Alten Welt … zwar beileibe nicht jeder Einzelmensch, doch etliche Völker im Gesamtumriss amerikanisch werden. Ballastlosigkeit erwerben!… Denn in diesem Land ist beides, was der wahre Mensch braucht: verschwenderische Geblüh’ – und wagnisernster Geist.“

INFO:
Alfred Kerr, Yankee Land. Eine Reise durch Amerika 1924.
Leinen, 243 Seiten, Aufbau Verlag Berlin 2019, ISBN 978-3-351-03719-2
22 € / 22,70 € (A). Mit Personen/Sachregister und biographischer Notiz.

©Text: Dr. Margit Brinke – Dr. Peter Kränzle, ©Fotos: M. Brinke mit Ausnahme Buchcover (©Aufbau Verlag).

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