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USA-Literaturtipp: Deborah Feldmann, UNORTHODOX – Die Geschichte einer Befreiung

Ein Lesetipp von den Autoren des Bandes „USA-Ostküste“ und mehrerer anderer USA-Bände, Margit Brinke – Peter Kränzle, August 2016

Ein handlicher gold-eingebundener Band mit einem der selten gewordenen roten Markierungsbändchen: Schon optisch ist das Buch ansprechend, doch inhaltlich rührt es auf. „UnORTHODOX“ – mit rotem „Un“ und durchgestrichenem ORTHODOX – ist ein fesselnder Roman, den man nur ungern aus der Hand legt. Die gut 300 Seiten lesen sich lebendig, es fehlt weder an Witz noch an Tiefsinn und Hintergrund.

Ultraorthodoxes Judentum in Williamsburg/NYC

Deborah Feldman wurde 1986 in Brooklyn, als Mitglied einer ultraorthodox-jüdischen Satmarer-Gemeinde, geboren. Die Wurzeln dieser besonders weltabgewandten, isoliert-lebenden jüdischen Gruppe liegen im früheren Ungarn und heutigen Rumänien. Als ihr geistiger Führer gilt Joel Teitelbaum (1886-1979). Nach dem 2. Weltkrieg entstand die LesetippFeldman-CrownHeightsJudeGemeinde neu in New York City, genauer im Brooklyner Stadtviertel Williamsburg.
Die Chassidim, die „Frommen“, bilden eine besonders strenggläubige jüdische Gruppe. Die bekannteste und größte chassidische Gemeinschaft der Gegenwart ist die etwas weltoffenere Lubawitscher Gemeinde, die v.a. in Crown Heights/Brooklyn zu Hause ist. Daneben gibt es andere orthodoxe Bewegungen in Brooklyn: Satmar, Belz, Ger, Klausenberg, Wischnitz und viele weitere kleine Gruppen, benannt nach osteuropäischen Städten, in denen sie einst entstanden waren. Die Satmarer zählen zu den strengsten, sie sehen beispielsweise den Holocaust als eine von Gott verhängte Strafe dafür, dass die Juden sich assimiliert hätten. Um die Wiederholung der Shoa – die Vernichtung – in Zukunft zu vermeiden, führen sie ein Leben nach Gesetzen wie sie in den Schtetln von Osteuropa vor Jahrhunderten aufgestellt worden waren.

Ungewöhnliche Bestsellerautorin

Der Roman „Unorthodox“ erschien 2012 in den USA und der autobiografische Bericht erklomm sofort die Bestsellerliste der New York Times und verkaufte sich millionenfach. Deborah FeldmanDer Erfolg des Erstlingswerks von Deborah Feldman hängt mit der Ehrlichkeit und Lebensnähe der Schilderung, aber auch mit der literarischen Qualität und dem Informationsgehalt zusammen. Es gibt mehrere rote Fäden in diesem Roman: Literatur und Bücher (letztere mussten versteckt werden), Sex (darüber wissen alle Beteiligten, männlich wie weiblich, so gut wie nichts), das Verhältnis zwischen Mann und Frau (Unterwerfung bis zur Unsichtbarkeit) und die Bedeutung von Rabbis, Ritualen und Vorschriften, die sich von Speisegesetzen (koscher) über die Rocklänge bis hin zu den fruchtbaren Tagen der Frau erstrecken.

Männer in schwarzen Mänteln, mit Schläfenlocken unter riesigen Pelzkappen, jiddisch sprechend, Mädchen und Frauen, die rasch die Straßenseite wechseln, wenn sie ihnen begegnen. Männer, die feiern und in der Shul die heiligen Bücher lesen, und Frauen, die kochen, putzen und bedienen, berufstätig sind und Heerscharen von Kindern groß ziehen – so wächst Deborah Feldmann im Haushalt ihrer Satmar-Großeltern auf. Oberste Autorität ist der Rabbiner und die von ihm (oft individuell) ausgelegten Gesetze. Die Frau hat sich dem Mann unterzuordnen, da sie unfähig ist eigenständig zu denken. Daher gehen Mädchen auch nur wenige Jahre zur Schule. Beide Geschlechter leben bei den Satmar-Chassiden in getrennten Welten, der Kontakt zur Außenwelt ist aufs Notwendigste beschränkt, es gibt weder Fernsehen noch Internet und weltliche Bücher gelten als schädlich, für Frauen sind sogar die heiligen Bücher ein Tabu.

Befreiung aus den Fesseln religiöser Extremisten

Feldman hat es dennoch gewagt, ihre jüdische Gemeinde in Williamsburg zu „verunglimpfen“ – so ihre Gegner – indem sie die Zustände, die Gesellschaft und die Regeln dort beschrieb. Sie hat ihren Alltag von Kindheit an hinterfragt, las heimlich verbotene „weltliche Bücher“ und wurde mit 17 Jahren zwangsverheiratet. LesetippFeldman-JewCommunityBrooklynSie schafft es jedoch in kleinen Schritten sich von ihrem sexgeilen und eher feigen, wankelmütigen Ehemann Eli zu emanzipieren. Sie macht den Führerschein, erwirkt den Umzug in eine liberalere Gemeinde im Norden New Yorks, beginnt heimlich ein Literaturstudium am Sarah Lawrence College und trägt am Ende das Haar unbedeckt und kleidet sich „weltlich“ in Jeans und T-Shirt.

Durch ihr Studium und die Hilfe von Freunden – v.a. aber nach einem Unfall – kommt es letztlich zur kompletten Abnabelung. Sie packt 2009 ihre wenigen Habseligkeiten und ihren dreijährigen Sohn ins klapprige Auto und taucht im Moloch New York unter, setzt die Scheidung durch und erstreitet das Sorgerecht. Daneben wird sie erfolgreiche Autorin und lebt heute in Berlin-Kreuzberg.

In ihrem Roman schildert Feldman den Emanzipationsprozess einer jungen Frau – ihr eigenes Leben. Sie war ein Scheidungskind, das selbst von der eigenen Großfamilie von Beginn an als Außenseiterin abgestempelt war: der Vater geistig behindert, die Mutter, zu der sie später Kontakt aufnimmt, war aus der Gemeinde geflüchtet. Feldman wächst deshalb bei den gestrengen, sittentreuen Großeltern auf, bei „Bubbe“ und „Zeidi“, letzterer ein Rabbiner. Feldman genießt die Schule, v.a. die im Gemeindealltag verbotene englische Sprache, und holt sich heimlich Bücher aus der Bibliothek. Sie genießt ihre größeren Freiheiten als Lehrerin, bis sie mit 17 „verkuppelt“ wird und ihr Leidensweg mit Ehemann und Sexualproblemen beginnt.

Religiöser Fundamentalismus

Feldmans Erzählung gibt Einblick in alte jüdische Traditionen, Feste, Rituale, Vorschriften. Verheiratete Frauen haben ihr Haar zu bedecken um die Männerwelt nicht in Versuchung zu bringen. LesetippFeldman-JuuedGeschaeftsmannBei den Satmarern wird das Haar unter der Perücke und dem Kopftuch sogar rasiert. Sittsame Kleidung, die die Körperformen verhüllt, meist knielange, dunkle Röcke, sind die Regel. Obwohl Bescheidenheit gepredigt ist, schildert Feldman auch die üppigen Geschenke, die Braut und Bräutigam vor der Hochzeit austauschen, und die rauschende Feier, bei der Männer und Frauen getrennt feiern. Kurioserweise wird das Brautkleid jedoch nur ausgeliehen.

Eine Privatsphäre gibt es nicht, selbst was die Sexualität angeht. So weiß die ganze Gemeinde am nächsten Tag Bescheid darüber, dass die Hochzeitsnacht von Deborah und Eli eine Pleite war. Sexualität ist ein Tabu, man weiß nichts und kennt seinen eigenen Körper nicht, trotz „Hochzeitsvorbereitungskurses“. Feldman erfährt die Konsequenzen schmerzlich am eigenen Leib, wird krank und unfähig, Sex zu haben. Feldman schildert im Detail und sehr ehrlich ihren Leidensweg, bis die Ehe „vollzogen“ werden kann und sie schließlich schwanger wird und einen Sohn gebiert. Kein Geld wurde zuvor gespart, die junge Frau zu Therapeuten und Ärzten zu schicken, um ihre „Unzulänglichkeit“ zu beheben.

Chassidinnen bringen ein halbes Dutzend oder mehr Kinder zur Welt, Empfängnisverhütung ist unbekannt, immerhin gilt die Frau für einen halben Monat als „unrein“ und darf nicht berührt werden, nirgends. Ultraorthodoxe Frauen müssen nach ihrer Menstruation sieben Tage lang anhand von 14 Tüchern nachweisen, dass sie nicht mehr bluten. Erst nach der Mizwah, dem Ritualbad, in dem bei Feldman meist bigottisch-authoritäre Badefrauen wachen, gilt sie wieder als Bettgenossin und wird „wie ein Stück Holz“ benutzt.

Wie weltabgewandt und hermetisch abgeschlossen die Gemeinschaft ist, belegt Feldman mit ihrer Schilderung des 11. September 2001, dem Anschlag auf das World Trade Center. Damals wurden die Kinder zwar von der Schule heimgeschickt, aber ohne Erklärung der Geschehnisse. Der Großvater wettert heftig gegen all die Künstler und Verrückten, die in den 1990ern zunehmend in Nord-Williamsburg einfielen – man mag keine Eindringlinge, die Unruhe stiften.

Man lernt bei der Lektüre dieses Buches viel, nicht nur über Emanzipation, sondern auch über Shabbes-Zeremonien – z.B. dass man am Shabbes nichts hochheben und keinen Kinderwagen benutzen darf –, über Speisegesetze (koschere Küche), LesetippFeldman-BuchcoverKleidervorschriften und Bekleidungsstücke wie Shtreymel (Hut) oder Shpitzel (Kappe) und über die Mikweh. Man lernt jedoch vor allem, wie fanatisch-rückständig und fundamentalistisch Religion sein kann. Auch wenn Feldman zugibt, dass inzwischen selbst in ihrer Gemeinde ein gewisser Fortschritt, v.a. was moderne Medien angeht, bemerkbar ist.

INFO: Deborah Feldman, Unorthodox. Aus dem amerikanischen Englisch von Christian Ruzicska. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2016, 319 S., 22 €; ISBN-13: 9783905951790, mit hilfreichem Glossar.

© Text: M. Brinke-P. Kränzle, Fotos: M. Brinke und Secession Verlag Zürich (Buchcover und Autorin)

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