Ein Buchtipp von den Margit Brinke & Peter Kränzle, den Autoren mehrerer USA-Bände bei Iwanowski’s, darunter „USA-Nordwesten“ und „USA-Westen“, in denen beiden auch die Region enthalten ist, in dem der nachfolgend empfohlene Roman spielt, April 2019
Inhalte
Ein Schrotthaufen als Klassenzimmer, Metallplatten als Lehrbücher
Es ist ein „Bildungsroman“, weniger im klassischen Sinne, vielmehr im Sinne von Bildung als „Befreiung“. „Befreit“ heißen deshalb auch die ergreifenden, kürzlich auf Deutsch erschienenen Memoiren der amerikanischen Autorin Tara Westover, die man so schnell nicht wieder aus der Hand legt.
Zu allererst: Diese Erinnerungen sind von viel Gewalt geprägt. Es fließt viel Blut, Wunden werden „weggebetet“, bagatellisiert und ignoriert. Bei der Arbeit auf dem väterlichen Schrottplatz sind die sieben Geschwister – Tara ist die Jüngste und hat fünf Brüder und eine Schwester – immer wieder schweren Maschinen oder gefährlichem Handwerkszeug, achtlos vom Vater geworfenen Gegenständen, Achtlosigkeit beim Entleeren von Benzintanks oder beim Bauen von Dächern ausgesetzt und tragen deshalb häufig Verletzungen davon.
Dazu kommen Autounfälle (bei einem wird die Mutter schwer verletzt, bei einem anderen der Bruder) und im Falle von Tara – und, wie sich später herausstellt, auch bei ihrer Schwester Audrey und ihrer Schwägerin Emily – brutale Misshandlungen durch den sadistisch-unberechenbaren Bruder „Shawn“ (ein Pseudonym), der selbst mehrere schwere Kopfverletzungen erlitten hat. Es sind seelische Wunden – er nennt Tara z. B. „Hure“ oder „Nigger“ und macht sich vor Freunden über sie lustig – und körperliche – verdrehte Gelenke, gebrochene Handgelenke und Zehen und Ziehen an den Haaren –, die er ihr zufügt, und bei denen Vater und Mutter wegsehen.
Warten auf den Letzten Tag
Es ist weniger eine Geschichte über Mormonen im Allgemeinen als vielmehr ein nüchterner Einblick in eine einzelne patriarchalisch geprägte, fundamentalistische Mormonen-Familie im ländlichen Idaho. Sie lebt abgeschieden auf einer Farm am Fuße des Buck Peak, man liest das Book of Mormon und das Alte Testament und wartet ständig auf den Zusammenbruch der Zivilisation, das Ende der Welt. Vater „Gene“ sorgt dafür, dass sich die Familie mit Waffen,
Munition, Vorräten und Rucksäcken mit Überlebensausrüstung eindeckt. Zudem werden ein unterirdischer Treibstofftank und ein Luftschutzkeller angelegt um für die Flucht in die Berge gewappnet zu sein. Die vom Vater todernst betriebenen Apokalypse-Vorbereitungen nehmen fast skurrile Züge an, doch der letzte Tag bricht nicht an und der Vater ist verbittert.
Tara wächst in dieser von archaischer Gewalt und wenig Feingefühl oder Liebe geprägten Umgebung auf, in der Vater das Gesetz ist. Und ihm ist eine abgrundtiefe Abneigung gegen Behörden und Staat eigen, weswegen Geburtsurkunden, KfZ-Versicherung oder Führerschein nur Beweise der Unterwerfung und des Bösen sind. Ebenso Bildung, denn seiner Meinung nach verseuchen anmaßende Experten und Sozialisten Schulen, Krankenhäuser und Behörden. Die Paranoia des Vaters wird forciert durch die Vorkommnisse 1992, die Tara als Kind erlebt und in den Memoiren erwähnt: das Ruby Ridge FBI Standoff, bei dem nach mehrtägiger Belagerung Familienmitglieder des als staatsbedrohlich eingestuften Mormonen Randy Weaver durch FBI-Beamte zu Tode gekommen sind.
Züchtigkeit und Medizin aus Gottes Apotheke
„Unzucht“ aller Art, die sich z. B. in der Rocklänge oder in hochgekrempelten Ärmeln äußert, wird in der Familie zutiefst verachtet. Die Zugehörigkeit Taras zu einer Tanzgruppe endet jäh wegen zu anrüchiger Bewegungen (und trotz langärmelig-züchtigem Sweatshirts) und das, obwohl die Mutter sie zunächst gefördert hat. Für den Vater sind Ärzte „Teufel“ und daher werden drastische Verletzungen aller Art nie von einem Arzt oder in einem Krankenhaus behandelt. Medikamente sind ein Tabu, stattdessen kommen Arzneien aus „Gottes Apotheke“ zum Einsatz, homöopathische Präparate.
Für die Heilung ist die Mutter, im Buch „Faye“ genannt, zuständig, die auf Drängen des Vaters zur Hebamme geworden ist und dazu in der heimischen Küche als Kräuterfrau wirkt. Ihr Glaube an Wunder, an Chakren und die Aussagekraft von „Muskeltests“ in den Fingern wächst im Laufe der Zeit. Sie ist eine fügsame und unterwürfige Frau, die stets zu ihrem Mann hält und auch Tara letztlich nicht vor dem sadistischen Bruder beschützt. Selbst bei lebensbedrohlich schweren Verbrennungen wie sie ein Bruder und der Vater erleben, muss der Schmerz als „Zeichen Gottes“ klaglos erduldet werden: „Wenn Du verletzt wirst, ist es Sein Wille“. Tara selbst braucht lange, bis sie Tabletten nimmt oder sich in ärztliche Behandlung begibt.
Befreiung durch Bildung – Vom ländlichen Idaho ins britische Cambridge
Tara Westover wurde 1986 in Clifton, in der Südostecke Idahos, geboren, in weiter, leerer Landschaft, knappe drei Fahrtstunden nördlich Provo/Utah, wo sich die Brigham Young University (BYU), die Mormonen-Universität, befindet. Da die Arbeitskraft der Kinder unbarmherzig auf dem väterlichen Schrottplatz, beim Scheunenbau und, in Taras Fall, auch beim Kräutermixen der Mutter, ausgebeutet wird, und dazu der Vater den teuflischen Einfluss der „Illuminaten“ in der Welt draußen fürchtet, betritt Tara erstmals im Alter von 17 Jahren eine Schulklasse.
Von da an ist es ein ständiges Auf und Ab für Tara, ein beständiger Kampf zwischen Bildung und Abnabelung einerseits und den Familienbanden, Verpflichtungen und der Religion andererseits. Bildung hatte in dieser Familie vormals kaum eine Rolle gespielt, das Einzige was zählte, war Lesen zu können – „der andere Mist ist bloß Gehirnwäsche“. Tara war, streng genommen, nicht einmal „home-schooled“, d. h. zu Hause unterrichtet worden, wie es die Aufnahmebedingungen an die BYU vorsahen. Die Versuche der Mutter, die Kinder daheim zu fördern, waren eher halbherzig und dazu vom Vater nicht gern gesehen. Um mit Tara zu sprechen: Das Klassenzimmer war ihr Schrotthaufen. Ihre Lehrbücher Metallplatten (und heilige Bücher).
Umso schwerer war es für Westover, lediglich ermutigt durch ihren Bruder Tyler, aber über wenige Grundkenntnisse verfügend, den Zugangstest zum College zu absolvieren. Sie muss sich zunächst eine Geburtsurkunde beschaffen – dabei fand sie heraus, dass ihr genauer Geburtstag nicht bekannt ist. An BYU aufgenommen, erlebt sie eine Art Kulturschock als sie auf mormonische Zimmergenossinnen trifft, die weitaus liberaler und freizügiger aufgewachsen sind als sie selbst. Sie entwickelt sich Stück für Stück von der unbedarften Schülerin, die im Kunstunterricht fragt, was Holocaust sei und keine Ahnung über Civil Rights oder die sinnvolle Nutzung von Lehrbüchern hat, zur wissbegierigen Studentin. Sie beißt sich durch im Unterricht, erlebt immer wieder Rückschläge, wird von Versagensängsten (und finanziellen Nöten) gepeinigt, sie arbeitet immer noch härter und akzeptiert nach langer Weigerung Beihilfe und später ein an BYU Aufsehen erregendes Stipendium an der altehrwürdigen englischen University Cambridge.
Von Zweifeln und Kämpfen
Privat kapselt sie sich ein, kehrt immer wieder in das Elend zu Hause zurück, und verheimlicht selbst guten Freunden (die sie dann deswegen oft auch verliert) lange Zeit ihre Vergangenheit, ihre enge Bindung zu Heimat und Familie, spricht nicht über Zwänge und Gewalt. Tara kämpft allein gegen den familiären Druck, gegen ihren eigenen Eigensinn und gegen ihren Wunsch, unbefangen wie die Anderen zu sein. Ihr einziger Vertrauter ist das Tagebuch, das sie, um ihre Erinnerungen zu überprüfen, immer wieder zu Rate zieht.
Es dauert, bis sie einen Platz in der „neuen Welt“ gefunden hat. Sie geht auf Reisen, besucht Rom und fügt sich allmählich in die Gesellschaft ein. Erst am Ende, nach Intrigen, die Mutter und Schwester gegen sie schmieden, als sie versucht die Familie mit dem Verhalten von Shawn zu konfrontieren, und nach einem „Segnungsversuch“ des Vaters bei einem Besuch während ihres Gastsemesters in Harvard, der sie von der Macht des Bösen befreien soll, bricht sie mit ihrem bisherigen Leben und der Familie. Der Kampf zweier Welten endet in einem schmerzhaften Abnabelungsprozess.
Debütroman, der für Furore sorgt
Westover lebt heute in Großbritannien. 2008 erwarb sie den Bachelor of Arts an der BYU und bekam ein Stipendium fürs Studium am Trinity College im britischen Cambridge, wo sie 2009 mit einem Master of Philosophy abschließt.
Dank hoher Wertschätzung ihrer Arbeit und Förderung durch ihre Professoren promovierte sie 2014, nach einem Gastsemester an der Harvard University in den USA, im britischen Cambridge in Geschichte. „Educated“ – im Februar 2018 in Englisch erschienen, als „Befreit“ im September 2018 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln auf Deutsch, ist ihr erstes Buch.
Deborah Feldmans (ebenfalls 1986 geboren) Debütroman „Unorthodox“, erschien 2016 (s. Beitrag vom August 2016) und ist in vielen Belangen vergleichbar und doch ein ganz anderes, ebenso wegweisendes Erinnerungsbuch an eine ähnlich dramatische Selbstbefreiung der Deborah Feldman aus einer ultraorthodox-chassidischen Gemeinde in Williamsburg/New York.
Tara Westovers Eltern, LaRee und Val, haben die Ausführungen und Anschuldigungen der Tochter als böse Verleumdung zurückgewiesen und präsentieren sich auch heute noch, z. B. die Mutter auf Facebook, als heile, ganz normale Familie. Auch die Geschwister haben sich mit Ausnahme zweier Brüder von Tara distanziert. Die Familie betreibt heute unter dem Namen „Butterfly Express“ – auch im Internet –, einen profitablen Handel mit Heilölen und Tinkturen. Als Firmengründerinnen werden LaRee Westover (die Mutter) und Tochter „Valaree Sharp“ genannt – Val heißt der Vater, LaRee die Mutter …? –, die auf dem Foto verblüffende Ähnlichkeit mit Lara hat. Den Schrottplatz gibt es, zumindest auf Google Maps, auch immer noch.
Dabei handelte es sich bei Tara Westover um keine Rebellion, sondern um einen langen, schmerzhaften Loslösungsprozess von Heimat, Herkunft und Familie und wohl auch ein bisschen von der Religion, der einhergeht mit einem Gefühl des Verlustes und der Verlassenheit. Sie spricht nie schlecht über die Latter-day Saints, wie die Mormonen korrekt heißen, aber sie kritisiert Polygamie und andere strikte Regeln, bricht mit Speise- und Kleidungsvorschriften und Verboten wie Ärzte zu konsultieren. In erster Linie geht es aber nicht um die Kritik an der Religion, sondern um Kritik an dem familiären Schreckensregime unter einem dominanten Vater – und um Bildung.
Tara Westover, Befreit. Wie Bildung mir die Welt erschloss.
Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln, www.kiwi-verlag.de, aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld, ISBN: 978-3-462-05012-7, 2018, 448 Seiten, gebunden mit SU, 23 €.
© Text: Dr. M. Brinke – Dr. P. Kränzle
Fotos: © M. Brinke mit Ausnahme Buchcover (© KiWi Verlag) und Porträt der Autorin (© Verlag/Paul Stuart).