Ein Lesetipp von den Autoren der Bände „USA-Nordosten“ und „USA-Ostküste“ sowie mehrerer anderer USA-Bände, Margit Brinke – Peter Kränzle, Sept. 2016
„Call me Ishmael – Nennt mich Ishmael“ – mit diesen drei Worten beginnt der berühmte Roman „Moby-Dick“. Man glaubt, das Meisterwerk des in New York geborenen Herman Melville (1819-1891) aus zahlreichen deutschen Übersetzungen und durch die legendäre Verfilmung mit Gregory Peck als Kapitän Ahab zu kennen. Doch der „wahre Melville“ ist noch gar nicht so alt: Erst 1988 erschien der vollständige und gesicherte Urtext in englischer Fassung, herausgegeben von Harrison Hayford, Hershel Parker und G. Thomas Tanselle in der Northwestern-Newberry Edition.
Friedhelm Rathjen und sein Moby-Dick
Der deutsche Übersetzer Friedhelm Rathjen, bekannt durch Neuübersetzungen von Mark Twain oder James Joyce sowie für eine brilliante deutsche Ausgabe der Expeditionstagebücher von Meriwether Lewis und William Clark, sollte in den 1990er-Jahren für den Carl Hanser Verlag München „Moby-Dick“ ins Deutsche übertragen. Allerdings wurde seine Version abgelehnt und Matthias Jendis übernahm die Aufgabe. Der Band erschien 2001 und löste eine allgemeine Diskussion über „texttreue oder lesbare“ Übersetzungen aus. So wurde Rathjen als Übersetzer stets einerseits für seine Erfindungskraft gelobt, andererseits für sein sklavisches Kleben am Original getadelt.
Rathjens Übersetzung von Moby-Dick wurde dann im Herbst 2004 von Norbert Wehr für den Verlag Zweitausendeins in limitierter Auflage herausgegeben – und war schnell vergriffen. Vom 8. September 2016 an ist das Meisterwerk endlich wieder im Handel erhältlich: Dem regen Salzburger Verlag Jung und Jung, der bereits etliche lesenswerte, wenig bekannte Werke von Henry David Thoreau und Nathaniel Hawthorne auf deutsch herausgegeben hat, ist es zu verdanken, dass die grandiose Moby-Dick-Übersetzung von Rathjen jetzt erneut, und noch dazu als Prachtband, vorliegt.
Damit stehen dem deutschen Leser zwei deutlich unterschiedliche Übersetzungen zur Verfügung, was zugleich für die Einzigartigkeit des Originals spricht. Erst nach seinem Tod wurde Melville als einer der größten amerikanischen Autoren gewürdigt, den meisten seiner Zeitgenossen war sein Werk jedoch eher fremd und schwer verständlich. Bei seinem Meisterwerk „Moby-Dick“ warnte der Autor selbst „zartbesaiteten Seelen davor, auch nur einen flüchtigen Blick in dieses Buch zu werfen – sie riskieren Hüftweh und Hexenschuß“ und Rathjen nannte es ein „absolutes Unding, eine Monstrosität, ein Bastard“. Die wechselnden Tonlagen, die exzessive Rhetorik, die ungewöhnliche Interpunktion, die inkonsistente, langatmige und oft ungelenke Textstruktur hat ein komplexes und vielschichtiges „Monster “ entstehen lassen, das viele Leser bis heute überfordert.
Kein leichter Lesestoff: Captain Ahab und der Weiße Wal
„Moby-Dick“ ist ein Abenteuer im doppelten Sinn: Mit seiner Erzählung vom fanatischen Kapitän Ahab und dessen Jagd nach einem weißen Wal, die in New Englands einstigen Walfängermetropolen New Bedford und Nantucket (Fotos) beginnt, erzählt Melville eine der packendsten Geschichten der Weltliteratur. Wie er das macht und woraus er dabei schöpft, ist jedoch noch weitaus spannender: in sämtliche Richtungen ausgreifend, in wechselnden Tonlagen, mit exzessiver Rhetorik und einer bildhaft bombastischen Sprache beschreibt Melville die Höhen und Tiefen des mythischen Kampfes, bei dem der Mensch von seiner eigenen Hybris eingeholt wird.
Glätte, Homogenität und fein geschliffener Stil sind Züge, die dem sperrigen Original des bizarren Genies gänzlich fehlen. Diese Eigenart wiederzugeben ist ein schweres Unterfangen. Versuchen die einen Übersetzer zu interpretieren, zu glätten und zu „verbessern“, hält sich Rathjen streng an die Vorlage. Was dabei herauskommt liest sich stellenweise zwar ungewohnt, doch wer das Original kennt, der wird die Leistung des „wunderbar kreativen und kraftvollen Übersetzer Rathjen“ (Die Welt) und eines „der strengsten Diener fremder Sprachen in Deutschland“ (Frankfurter Rundschau) zu schätzen wissen.
Inhaltlich wie optisch gelungen
Friedhelm Rathjen ist für den schwierigen Stoff eine deutsche Fassung gelungen, die der sprachlichen Gestalt des Urtextes möglichst nahe kommt – das hat kein Übersetzer vor ihm erreicht. Erst dadurch zeigt sich auch, wie modern diese Schöpfung des „Monströsen und Ungebändigten“ in all ihrer Archaik ist, wie frisch und kraftvoll, und warum sie bis heute fasziniert.
Doch nicht allein die Übersetzung macht diesen Prachtband des Salzburger Verlags Jung und Jung zu einem Muss in jedem Bücherregal, auch die Aufmachung besticht: Die kühnen Holzschnitt-Illustrationen des ansonsten wenig bekannten amerikanischen Künstlers Raymond Bishop, die schon in der 1930 erschienenen, englischen Ausgabe enthalten waren, machen diese in Leinen gebundene Buchversion zu einem literarischen und optischen Kunstwerk. Im umfangreichen Anhang kann der kritische Leser dann noch unterschiedliche Aspekte um das Meisterwerk und die Übersetzung – zum Beispiel die Rezeption und Wirkungsgeschichte oder die Diskussion um Moby-Dick-Übersetzungen – vertiefen. Ein Essay von D.H. Lawrence über Moby-Dick und eine umfangreiche Zeittafel runden den Prachtband ab.
INFO: Herman Melville, Moby-Dick; oder: Der Wal
Deutsch von Friedhelm Rathjen. Mit Illustrationen von Raymond Bishop, einem Essay von D.H. Lawrence sowie umfassendem Anhang, Kommentar des Übersetzers, Nachwort von Alexander Pechmann sowie Zeittafel zu Leben und Werk des Autors.
Jung ung Jung Verlag, Salzburg 2016, 976 Seiten, in Leinen gebunden mit rot-transparentem Schutzumschlag und Lesebändchen, 45 €.
© Text: M. Brinke-P. Kränzle, Fotos: Verlag Jung und Jung Salzburg (Porträt Melville, Holzschnitte, Buchcover) bzw. Destination New Bedford (Hafen bei Sonnenuntergang) und New Bedford Whaling Museum (Walskelett).
Die Reisehandbücher USA-Nordosten und USA-Ostküste begleiten durch die geschichtsträchtigen Staaten entlang der Atlantikküste der Vereinigten Staaten. Dabei spielen die großen Metropolen, wie New York, Boston, Philadelphia und Washington D.C. und die Neuenglandstaaten eine große Rolle.