Erst im September 2015 wurde bei Beelitz/Potsdam, 50 km südwestlich von Berlin, der vielleicht schönste Baumkronenpfad Deutschlands eröffnet. Über eine Länge von 320 m spaziert man hier in bis zu 23 m Höhe zwischen den Wipfeln der „Berliner Urwälder“, doch sind es nicht ihre Ausmaße, die diese Anlage so besonders machen: Der Pfad windet sich über verwunschene Wälder und über den pittoresken Gebäuden der ehemaligen Beelitzer Heilstätten, die längst von der Natur zurückerobert wurden. Pflanzenumrankt und sich selbst überlassen, lugt dieses einstige Modell medizinischen Fortschritts wie ein morbid-malerisches Märchenschloss aus dem Wald hervor. Wie treffend deshalb der Name des Weges: „Baum und Zeit“!
Aussicht bis zum Fernsehturm am Alexanderplatz
Den angenehm breiten Pfad brauchen auch „Höhenangsthasen“ nicht zu scheuen. Von fünf Aussichtsplattformen mit Sitzplätzen aus können die Besucher die Weite der Landschaft, die großflächige Anlage und die herrliche Natur genießen: buchstäblich in Schulterhöhe mit den Baumriesen! Bei gutem Wetter reicht der Blick vom 40 m hohen Aussichtsturm sogar bis zum Berliner Fernsehturm am Alexanderplatz.
Einen beeindruckenden Anblick bietet auch das nahe „Alpenhaus“: eine Heilstätte für lungenkranke Frauen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs völlig ausbrannte. Auf dem eingefallenen Dach ist mittlerweile ein richtiger kleiner Wald entstanden, und überall wo Licht und Feuchtigkeit es zulassen, wuchert es weiter.
Tipp: Man sollte unbedingt genug Zeit einplanen für die Begehung des Baumkronenpfades sowie für die einstündige Führung zu einzelnen Gebäuden – beides gehört zum Erlebnis Beelitz zusammen. Und noch ein Hinweis für die Gourmets: Beelitz ist DAS Spargelanbaugebiet bei Berlin!
Ausflug in die Kaiserzeit – Beelitzer Heilstätten
Die selbst in ihrem Verfall imposanten Beelitzer Heilstätten sollte man aber nicht nur aus der Vogelperspektive bewundern, sondern auch im Rahmen einer Führung oder auf eigene Faust vom Erdboden aus erkunden. Die historischen Ruinen lassen den Besucher direkt in die Vergangenheit der Kaiserzeit treten! 1898 erwarb die Landesversicherungsanstalt Berlin dieses 140 ha große Gelände fernab vom Berliner Großstadttrubel. Inmitten der ausgedehnten Waldlandschaft war die Luft rein und klar und bot daher gute Heilungschancen für an Lungentuberkulose erkrankte Menschen. Ursächlich für die Vielzahl von TBC-Fällen waren primär die Arbeits- und Wohnverhältnisse eines Großteils der Bevölkerung während der Industrialisierung: Zahlreiche Tätigkeiten waren mit körperlicher Anstrengung und viel Staub und Rauch verbunden. Immer mehr Arbeiter lebten dicht gedrängt in Mietskasernen – mit wenig Licht, schlechter Luft und bestenfalls fragwürdigen sanitären Einrichtungen. Manchmal wurden Schlafmöglichkeiten sogar im 8-Stunden-Rhythmus vermietet! Entsprechend extrem war die Ansteckungsgefahr, die Zahl der Neuinfektionen schnellte in die Höhe. Darunter litten natürlich auch die unter Reichskanzler Otto von Bismarck eingeführten Sozialsysteme. Eine Reaktion auf diese Entwicklung war die von der Landesversicherungsanstalt Berlin forcierte Einrichtung der Beelitzer Heilstätten, die zu Recht als guter Lösungsansatz galten.
Große Liegehallen zur Frischlufttherapie
Der Klinikbetrieb wurde nach teuersten und – aus damaliger Perspektive – modernsten Maßstäben optimiert: Es gab getrennte Lungenheilstätten für Frauen und Männer, Badeabteilungen, relativ geräumige 2- und 4-Bettzimmer (zwischen 18–36 m²), große Liegehallen zur Frischlufttherapie mit geöffneten Seiten, Großküchen und Wäschereien.
Nahe Unterkünfte für das Personal, eigene Post, eigener Bahnhof, eigenes Heizkraftwerk und sogar eigene Elektrizitätserzeugung: Die Beelitzer Heilstätten bildeten fast eine autarke Stadt für sich – deren verlassene Überreste heute eine besondere, weltferne Atmosphäre umgibt.
Infos: Baum und Zeit, Straße nach Fichtenwalde 13, 14547 Beelitz-Heilstätte, Tel. 033204/634723, www.baumundzeit.de; Öffnungszeiten: Mai – September 9–19 Uhr, April und Oktober 9–17.30 Uhr, Nov–März 10–16 Uhr; Anfahrt: Über die A 9 oder mit der Regionalbahn 7 Berlin – Dessau
Das gesamte Gelände ist barrierefrei, zum Baumkronenpfad führt auch ein Lift. In der Nähe gibt es ein Restaurant, Imbissmöglichkeiten und einen Biergarten. Ein Waldspielplatz liegt zentral gleich daneben.
© Fotos und Text: Michael Iwanowski
In und um Berlin lässt sich viel entdecken. Michael Iwanowski liebt es, immer neue Seiten und interessante Spots in seiner Lieblingsstadt zu erkunden. Was es an lohnenswerten, skurrilen und noch fast unbekannten Ecken in der Hauptstadt gibt, verrät sein Reiseführer 101 Berlin – Geheimtipps und Top-Ziele, der Ende Oktober aktuell im Handel erscheint.