Kommentare 0

Colson Whitehead, Die Nickel Boys

Ein Lesetipp von den Autoren mehrerer USA-Bände bei Iwanowski’s, Dr. Margit Brinke – Dr. Peter Kränzle, Sept. 2019

Colson Whiteheads neuester Roman basiert – wie schon der Vorgänger, „Underground Railroad“ (s. Beitrag vom 6. Nov. 2017) – auf historischen Fakten, wird aber mit der für den Autor typischen wirkungsvollen Art und Weise zum fiktiven Roman. Whitehead, 1969 in New York geboren, studierte an der Harvard University und hat sich mit vielen Auszeichnungen längst einen Namen im modernen Literaturbetrieb gemacht. Für „Underground Railroad“ wurde er mit dem National Book Award 2016 und dem Pulitzer-Preis 2017 ausgezeichnet. Im Sommer erschien bei Hanser nun mit „Die Nickel Boys“ sein jüngstes Werk auf Deutsch.

Gleich vorweg: Es ist ein brutales und sehr emotionales Buch, und man tendiert dazu, es nach dem ersten Viertel aus der Hand zu legen. Whitehead greift erneut eine brisante und komplexe Thematik auf: den Rassismus. Der Roman spielt in Florida, Anfang der 1960er Jahre, zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung, und erzählt die Geschichte der Dozier School for Boys in Florida – einer Besserungsanstalt (Nickel Academy) für „schwer erziehbare“ Jugendliche, Schwarz und Weiß. Nachgewiesenermaßen wurden in der Anstalt über einen Zeitraum von über 100 Jahren Knaben gefoltert, vergewaltigt und ermordet. 1900 als „Florida Industrial School for Boys“ für junge Straftäter, zu deren körperlicher, geistiger und moralischer Ertüchtigung, eröffnet, stellten Schwerverbrecher und Ku-Klux-Klan-Anhänger das Personal und es wurden anfangs sogar 5-jährige Kinder aufgenommen. Die sogenannte Schule existierte von 1900 bis 2011 in dem Nest Marianna, rund 100 km von der Hauptstadt Tallahassee entfernt.

Center for Civil and Human Rights – Ausstellung in Atlanta

Es geht in dem Buch erneut um Diskriminierung durch eine rassistische Gesellschaft – die schwarzen Buben werden in der Anstalt noch brutaler behandelt als die weißen –, allerdings hat das »Böse tiefere Ursachen als die Hautfarbe«, wie Turner, der sympathisch-zynische Freund des 16-jährigen Hauptcharakters, Curtis Elwood, meint. Elwood braucht Zeit, um das zu begreifen, sein ausgeprägtes politisches und soziales Bewusstsein lässt ihn bis zuletzt auf eine bessere Welt hoffen.

Wandbild mit Martin Luther King in Atlanta

Curtis Elwood ist bildungshungrig und ehrgeizig, er glaubt auf fast naive Weise an die transformative Kraft der Bildung in einem System, das Schwarze zu Bürgern zweiter Klasse macht. Er hört die Reden von Martin Luther King an und arbeitet in Nebenjobs, um sich seinen Traum, ein College zu besuchen, erfüllen zu können. Auf dem Weg dorthin wird er jedoch verhaftet und ohne gerechtes Verfahren ins Nickel geschickt – ein dummer Zufall, da er aus Geldmangel trampen muss und in ein gestohlenes Auto steigt. Das rassistische System schlägt erbarmungslos zu.

Zu Anfang ist Elwood noch optimistisch bezüglich des Bildungsangebots in der Institution, doch der Aufseher verweist rasch auf den erzieherischen Nutzen körperlicher Arbeit. Bildung gibt es an dieser sogenannten Schule kaum, die Jugendlichen dienen als billige Arbeitskräfte. Gewalt ist allgegenwärtig und wird systematisch betrieben: Prügel gibt es in einem Nebengebäude, das das „Weiße Haus“ genannt wird, oder auch „Eiscreme-Fabrik“, weil man es „mit schillernd bunten Blessuren verließ“. Der Ort, an dem Vergewaltigungen stattfinden, heißt hingegen „Lover’s Lane“. Ein geheimer Schulfriedhof – der später tatsächlich entdeckt wurde – legt Zeugnis ab von systematischem Rassismus und Brutalität. Ein schwarzer Junge, der aus dem Nickel flieht und gefasst wird, erhielt nicht einmal mehr ein Grab, sondern verschwindet.
Elwood und seine Mitinsassen schuften im Nickel, während draußen andere für ihre Rechte als Afroamerikaner protestieren. Elwoods Großmutter Harriet, bei der Elwood im schwarzen Ghetto von Talahassee lebte, ist zu Zeiten der Civil Rights-Unruhen 1968 aufgewachsen und hat gelernt, wie Schwarze sich verhalten müssen. Das wilde Aufbegehren von 1968 kommt im Roman immer wieder zur Sprache. Die Großmutter will für Elwood einen Rechtsanwalt einschalten, dieser haut jedoch ab und Elwood bleibt gebrochen im Heim zurück.
Während einer Inspektion des Nickel, gelangt mit Hilfe Turners ein Brief von Elwood in die Hände einer Zeitung und der „scheißclevere Nigger“ landet nach Schlägen in einer Zelle. Wiederum ist es der mutigere Turner, der Curtis zur Flucht überredet, während der eine von Beiden erschossen wird. Der andere setzt sein Leben in New York fort. Am Ende des Romans befindet sich der Leser in Manhattan, beim Marathon, und der Ausgang des Romans ist eher überraschend.

INFO
Colson Whitehead, Die Nickel Boys
übersetzt aus dem Englischen von Henning Ahrens,
Hanser Literaturverlage, Juni 2019
224 Seiten, ISBN : 978-3-446-26276-8, € 23,00

©Text: M. Brinke – P. Kränzle, ©Fotos: M. Brinke, Cover: ©Hanser Literaturverlage

Schreiben Sie eine Antwort


Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.