Ein Lesetipp von den Autoren des Bandes „USA –Ostküste“ u. a. USA-Bände, Margit Brinke – Peter Kränzle, Februar 2016
Inhalte
Wenn man von den Südstaaten spricht, dann tauchen Bilder wie aus dem verfilmten, weltberühmten Südstaaten-Epos von Margaret Mitchell „Vom Winde verweht“ auf: Endlose Baumwollfelder, mit „Spanish Moss“ behangene Eichenalleen, prunkvolle Herrenhäuser, beschauliche Städte mit schmucken historischen Villen, „Southern Belles“ und elegante Kavaliere, aber auch die armen Nachfahren der Sklaven und die weißen „Rednecks“.
Auf einer Reise durch die Südstaaten ziehen diese Bilder vorbei, beispielsweise entlang dem Küstenabschnitt zwischen Savannah in Georgia und dem nördlich gelegenen Charleston/South Carolina: Hier bekommt man Vorstellungen und Vorurteile noch immer bestätigt.
Trotz aller Gastfreundlichkeit und Redseligkeit der Südstaatler beschleicht einen gelegentlich ein eigenartiges Gefühl, wie Paul Theroux: „Da wusste ich, dass der Süden mich nicht loslässt – mal in einer wohlige Umarmung, mal in einer unerbittlichen Umklammerung.“ Theroux schildert in seinem grandiosen Reisebuch „Tief im Süden. Reise durch ein anderes Amerika“ seine Gefühle für und seine Gedanken über diese Region nach vier ausgiebigen Reisen durch die Südstaaten.
Tief im Süden mit Paul Theroux
Paul Theroux, 1941 in Massachusetts geboren, war nach seinem Studium kurzzeitig als Lehrer in Malawi, Uganda und Italien tätig, ehe er 1972 die Karriere als Reiseschriftsteller einschlug. „The Great Railway Bazaar“ – ein Bericht über eine Bahnreise um die halbe Erde – war sein erster Bestseller. Beeinflusst von Bruce Chatwin und V.S. Naipaul hat er es inzwischen auf mehr als 40 Bücher gebracht und gilt damit als einer der bekanntesten angelsächsischen Autoren. Neben autobiografisch beeinflussten Büchern und Sachbüchern hat er vor allem mit Berichten über seine Reisen durch China, Argentinien und die Südsee Weltruhm erlangt.
„Tief im Süden“ – „Deep South“ im Original“ – ist sein zehntes Reisebuch. Dabei widmet sich der Weltenbummler Theroux erstmals seinem eigenen Land, genauer den Südstaaten. Er empfindet diesen Landstrich als eine unbarmherzige Welt, in der man jedoch immer wieder auf Mut, Herzlichkeit und stark ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl stößt. Oft glaubt sich Theroux auf seinen Reisen durch den Süden an die ärmsten Länder der Welt erinnert. Exotisch erscheint ihm die Gegend, erstaunlich die Offenheit, mit der ihm die Menschen begegnen.
Rassismus und Segregation
Theroux erkundet abseits der Hauptrouten und Touristenattraktionen fast verlassene Ortschaften, trifft Kirchgänger und Pastoren in Freikirchen, unterhält sich mit „Rednecks“ auf Waffenausstellungen und fährt auf Nebenrouten durch Dörfer und die Landschaft entlang des „Ol’ Man River“, des Mississippi. Dabei sind Rassismus und die Folgen von jahrhundertelanger Segregation allgegenwärtig. Theroux begibt sich hinein in diese noch immer gespaltene Gesellschaft, fragt behutsam nach und hört aufmerksam zu, getrieben von beständiger Neugier. Faszination wechselt sich ab mit Verwunderung über diesen Teil Amerikas, der selbst dem US-Bürger Paul Theroux fremd zu sein scheint.
Die Kritiken über Theroux’ Buch sind gemischt – die New York Times beklagte beispielsweise die Wiederholung bekannter Vorurteile –, doch unumstritten ist Theroux’ Fähigkeit zuzuhören, die Leute zum Reden zu bringen und die Landschaften eindrucksvoll zu beschreiben. Liest man das Buch, sieht man in den Episoden nicht nur die Menschen und die Landschaften vor sich – dazu tragen auch die Schwarzbilder des Fotografen Steve McCurry bei –, sondern träumt auch schnell davon, die Südstaaten selbst kennenzulernen.
Praktische Anleitung für eine Reise in den Süden der USA
In der Tat sollte dieses Buch Pflichtlektüre für alle sein, die eine Reise in den Süden oder Südosten der USA planen. Natürlich muss man dabei die Attraktionen – die im Buch außen vor bleiben – besuchen, doch Theroux ermutigt Leser auch dazu, die breit getreten Pfade gelegentlich zu verlassen.
Paul Theroux’ Buch „Tief im Süden“ ist auch ein wichtiger Beitrag für ein besseres Verständnis der USA. Die Vereinigten Staaten sind nicht nur ein geografisch kaum fassbar, sondern bestehen zugleich – wie schon im 19. Jahrhundert der Dichter Walt Whitman feststellte – aus einer „Nation of Nations“, einer Nation aus unterschiedlichsten Ländern, die oft nicht viel gemeinsam haben – nicht einmal die Sprache, wie jeder Südstaaten-Reisende leicht selbst feststellen wird.
Paul Theroux, Tief im Süden. Reise durch ein anderes Amerika. Mit Fotos von Steve McCurry (Hoffmann und Campe Verlag, 2015), www.hoca.de, 608 Seiten, Übersetzung Reiner Pfleiderer, Franka Reinhart und Sigrid Schmid, 26 Euro
© Text: M. Brinke – P. Kränzle, Fotos: Margit Brinke, Hoffmann & Campe (Buchcover)