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Bildband-USA: „New York Sleeps“ – Stimmungsvolle Fotos einer Stadt, die (angeblich) „niemals schäft“

Ein Buchtipp von den Autoren des Bandes „USA-Ostküste“ und anderer USA-Bände, Margit Brinke – Peter Kränzle, Juni 2016

Inhalte

Allein das Format – rund 30×30 cm in dunkelgrauer Leinenbindung – ist ungewöhnlich, doch mehr noch sind es die Schwarzweiß(!)-Fotos des grandiosen Bildband aus dem Prestel Verlag mit dem Titel „New York Sleeps“. Die Aufnahmen wirken auf den ersten Blick wie historische Postkarten, dabei sind sie überwiegend noch keine zehn Jahre alt. Wegen hoher Nachfrage erschien der großartige Fotoband von 2009 jetzt als erweiterte Neuausgabe mit bisher unveröffentlichten Fotografien.

Menschenleer und von Lärm befreit

Bekanntlich schläft New York nie, die Metropole gilt als „24/7-Stadt“, rund um die Uhr ist es hektisch und laut – Menschen, Autos und Großstadtlärm. Betrachtet man die Bilder von Christopher Thomas stellt man jedoch fest, dass es anscheinend doch Zeiten gibt, zu denen die Stadt menschen- (und auto-)leer ist. Frühmorgens, vor oder bei Sonnenaufgang, ist dies beispielsweise der Fall und zu dieser Zeit flanierte Thomas mit seiner g10-NYSleeps-GrandCentralT-MBroßformatigen Polaroid-Kamera und Stativ durch schlafende, menschenleere, von Lärm befreite Stadt und fing sie zu verschiedenen Jahreszeiten ein.
Es sind stille, perfekte Fotos, wobei Thomas keine „geheimen“ Orte oder Gebäude, sondern – zumindest großteils – bekannte Motive und Sehenswürdigkeiten wie Grand Central Terminal, Brooklyn Bridge, Central Park oder Fifth Avenue wählte. Menschenleer und ohne Blechlawinen wirkt die Stadt fast unwirklich. Wichtige Elemente sind das Licht – teils künstliche Beleuchtung noch vor Morgengrauen, teils Dämmerlicht bzw. „Zwielicht“ –, die durch das Wetter (häufig Schnee, Nebel oder Wolken) erzeugte Stimmung und die Perspektiven. Beispielsweise beim Plaza Hotel, das aus der Froschperspektive mit einer Reiterstatue im Vordergrund aufgenommen ist.

„Stille Poesie“ der Großstadt

Der Münchner Christopher Thomas arbeitet weltweit als Werbefotograf und Porträtist von Prominenten. Er schuf Fotoreportagen für Geo, Stern, Süddeutsche Zeitung Magazin, Merian u.a. Publikationen. Als Künstler bekannt wurde er mit dem Zyklus „Münchner Elegien“ von 2005. Bereits damals hatte er einen kleinen Stapel New-York-Fotos ähnlichen Stils in der Schublade liegen, vor 2001 und vor „9/11“ entstanden. Vom Erfolg des München-Bandes getragen, 6-NYSleeps-BrooklynVauxParkMBkehrte er nach NYC zurück, um die Serie zu komplettieren, was vor allem 2008/2009 geschah und am Ende um die 80 neue Fotos einbrachte. Auf New York folgten unter anderem 2012 ein Venedig- und 2014 ein Paris-Bildband.
Die ersten sieben Fotos wiesen bereits die typischen Charakteristika auf: weich gezeichnet durch lange Belichtung und gedruckt auf Büttenpapier mit verschwommenen Rändern. Christopher Thomas steht in der „klassischen Tradition“ und setzt auf poetische Sinnlichkeit der Fotos, auf kontemplative Kraft und emotionale Aura. Mittel dazu sind für ihn Licht- und Wetterwirkungen. Thomas spart Menschen aus und setzt Objekte wie eine Ampel oder einen leeren Strand ins Zentrum. Das Schwarzweiß der Bilder verstärkt die Entrücktheit noch und steigert den romantisch-melancholischen Effekt, die Ruhe und Würde. Ein wenig erinnern die Bilder an frühere idealisierte Landschaftsbilder, aber auch an impressionistische Fotografien von Alfred Stieglitz oder Alvin Langdon Coburn.

Bekannte Sehenswürdigkeiten neu gesehen

Der Band gliedert sich, nach einem Vorwort von Petra Giloy-Hirtz und Ira Stehmann und zwei klugen (englischen) Essays von Ulrich Pohlmann vom Münchner Stadtmuseum (Fotografie) und Bob Shamis (Curator und Fotograf) in fünf Kapitel mit jeweils ganzseitigen SW-Fotos.
I4-NYSleeps-WallStreetMBm ersten Abschnitt geht es um Sehenswürdigkeiten wie dem Grand Central Terminal – mit nicht vorstellbarer Menschenleere – , dem Plaza Hotel – in fast unwirklicher Froschperspektive –, Columbus Circle, Union Square oder Guggenheim Museum im Schnee, Radio City Music Hall im Regen, das UN Building – von dicken Wolken umgeben bzw. von unten, durchs Gras, fotografiert und in die Ferne gerückt. Beleuchtung spielt beim Times Square und Metropolitan Museum die Hauptrolle. Bei fast allen Bildern wundert man sich, wie es der Fotograf geschafft hat, Menschen und Autos komplett zu eliminieren, speziell bei den Fotos der Grand Street in Little Italy oder von China Town – wo das Schild eines Waffenhändlers bzw. eine Ampel zu Hauptakteuren werden.
Grandios von Motivwahl wie Beleuchtung ist das Foto des Woolworth Buildings durch die Säulen der City Hall hindurch, das James Watson House mit Spiegelung auf nasser Straße, oder der Blick durch die Wall Street auf die Trinity Church ohne hastende Banker oder Sicherheitspersonal. Auch bei profanen Motiven wie Subway-Stationen konstatiert man erstaunt die Menschenleere. Thomas beschränkt sich jedoch nicht auf den touristischen Teil von Manhattan, sondern bezieht auch den Norden und die anderen Boroughs ein und bildet gelegentlich auch relativ unbekannte Sights wie dem United Palace Theater in Washington Heights oder Industry City (Brooklyn) ab.

Brücken und Wasser, Parks und Delis

Das Kapitel 2 hat Brücken zum Thema. Es sind häufig Perspektiven aus dem „Nichts“, aufgenommen von Kiesstränden oder im Dunst. Die menschenleere Brooklyn Bridge ist umhüllt von dichten Wolken, die Williamsburg Bridge wurde von unten, durch die Pfeiler hindurch, aufgenommen. 5-NYSleeps-BrooklynBridgeMBDas Little Red Lighthouse an der George Washington Bridge wirkt in Schwarzweiß höchst irreal und viel größer als in Wirklichkeit. Bei der Verranano Narrows Bridge hat Thomas mit verschwommener Landschaft im Vordergrund experimentiert.
Um „Wasser und Schnee“ geht es in Kapitel 3: Pier A im Schnee, noch vor der Renovierung, der Hafen von Hoboken und South Street Seaport sowie Queens’ Gantry Plaza State Park verschwommen im Nebel. 8-NYSleeps-ConeyIslandMBEine ungewöhnliche Perspektive vom South Ferry Terminal – mit aus dem Wasser stakenden Holzplanken – oder der Blick auf die Skyline von Midtown von einem recht baufälligen Pier in Weehawken/NJ sind keine alltäglichen Aufnahmen.
Kapitel 4 befasst sich mit Brunnen und Parks. Es gibt mehrere Schneebilder des Central Park, teils noch bei Dunkelheit, mit den Lichteffekten der Laternen, aufgenommen. Ein beliebtes Motiv ist der Bethseda Fountain, aber auch das Belvedere Castle bei aufgehender Sonne, 9-NYSleeps-StatueofLibertyMBdie Bow Bridge wie von einer historischen Kitsch-Postkarte oder auch so Triviales wie ein Beach-Volleyballfeld im Central Park kommen vor.
Kapitel 5 beginnt mit „Delis“, den typischen New Yorker Imbisslokalen wie Katz’s Deli – wobei es sich hier angesichts der rasenden Bebauung ringsum schon fast um eine „historische“ Aufnahme handelt. Die folgenden Fotos wirken ein wenig wie ein Konglomerat aus „Restbeständen“, vielfach Motive aus den Boroughs: ein leerer Hoboken Terminal, die Grand Army Plaza in Brooklyn, der New York State Pavilion in Queens. Es folgen Inseln bzw. Motive am Wasser, Ellis Island im Schnee, Coney Island mit Cyclone und Parachute Jump und eine grandiose Aufnahme vom Liberty State Park, wo die Statue of Liberty nur ganz klein den Hintergrund zu scheinbar wilder Natur bildet.
Es ist ein Genuss die Bilder von Christopher Thomas zu betrachten und das, obwohl man immer wieder verleitet ist, sie mit aktuellen Aufnahmen zu vergleichen. Fazit: Ein grandioser Fotoband, den jeder Fotografie- und New York-Fan im Regal stehen haben sollte.

New York Sleeps - Christopher Thomas von

INFO: Petra Giloy-Hirtz – Ira Stehmann (Hrsg.), New York Sleeps – Christopher Thomas (Prestel Verlag München, 2016), ISBN: 978-3-7913-8227-2, 39,95 €.

© Text: M. Brinke – P. Kränzle; Fotos ähnlicher Motive wie bei C. Thomas, allerdings „belebt“, alle von M. Brinke. Buchcover © Prestel Verlag.

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