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USA: Walker Evans – Genie der amerikanischen Dokumentarfotografie

Ein Lese- und Ausstellungstipp von den Autoren mehrerer USA-Bände, u.a. von „USA –Ostküste“, Margit Brinke – Peter Kränzle, Nov. 2015

An diesem über 400 Seiten dicken und mehrere Kilo schweren Wälzer  – und an diesem Künstler – kommt derjenige, der sich für frühe Fotografie interessiert, nicht vorbei. Der amerikanische Fotograf Walker Evans – als „Fotograf der Großen Depression“ bekannt – hat mit seinen klar strukturierten, scharfen Bildern die Gattung der Dokumentarfotografie maßgeblich geprägt und Generationen von Fotografen – von Helen Levitt über Robert Frank und Diane Arbus bis hin zu Lee Friedlander –, aber auch Pop-Art-Künstler wie Andy Warhol beeinflusst.

Walker Evans. Tiefenschärfe. Die Retrospektive

WalkerEvans FarmerFamily. iwanowski.blogMit mehr als 200 Fotografien würdigen nun John T. Hill – der bis 1994 der vom Künstler selbst bestimmte Nachlassverwalter war – und Heinz Liesbrock, Experte für amerikanische Fotografie, Evans gebührend. Ihnen ist der Katalog und die erste und bis dato umfassendste europäische Retrospektive im Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop, zu verdanken. Dabei war Evans der erste Fotograf gewesen, dem das MoMA in New York 1938 eine eigene Ausstellung (und einen Katalogband) gewidmet hatte.

„documentary style“ – Dokumente sozialer Realität

Der im Prestel Verlag erschienene Katalog „Walker Evans: Tiefenschärfe“ zeigt anhand von über 200 Fotos und mit interessanten Texten das breite Spektrum des Werks von Evans, das durchaus nicht nur aus den ikonischen Arbeiten für die Farm Security Administration –Bildern müder, ausgemergelter Farmer und ihrer Familien – besteht. WalkerEvans FarmersWife. iwanowski.blogZugegeben, mit diesen Fotos amerikanischer Südstaatler und ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen während der 1930er Jahre war Evans bekannt geworden. Sie waren Ausdruck des wahren Antlitzes der amerikanischen Nation, der sozialen Wirklichkeit. Evans prägte einen neuen „documentary style“ ohne Schönung – anders als es andere große Fotografen wie Stieglitz oder Steichen praktizierten –, setzte auf Distanz und Schärfe und machte den Alltag und das Belanglose zum Thema. Nicht die Kunst sollte im Vordergrund stehen, sondern die Komposition, nicht die Natur, sondern der Mensch, nicht das Porträt, sondern der einfache, anonyme Mensch in seinem Alltag. Evans wählt extreme Perspektiven, knipste Arbeiter, Slums und Hinterhöfe und entwickelte nie einen malerischen Stil.
Bereits vor dem Auftrag in Alabama im Rahmen einer Dokumentation der FSA (Farm Security Administration) während der Great Depression 1935/36 waren andere Fotoserien entstanden: zur viktorianischen Architektur in Boston (1931-34) oder zu Cuba (1933). WalkerEvans RoadsideStand. iwanowski.blogEbenso wenig bekannt sind die späteren Reihen „Many Are Called“ (1938-41) oder „Florida’s Gulf Coast“ (1941). Seine Bilderserien zu Chicago und Bridgeport, die er in den 1940er-Jahren im Auftrag des Magazin „Fortune“ schuf, zeigen den normalen Alltag, gewöhnliche Menschen, Fabrikbauten und brutale Armut. „Labor Anonymous“ (1946) verstärkt den Aspekt des Alltäglichen und auch die „Subway Series“ – heimlich aufgenommene Fahrgäste der New Yorker U-Bahn –, die (wie häufig bei ihm) im Rahmen einer Auftragsarbeit in Eigeninitiative 1938-41 entstanden, sind ein Beleg für das Können und das breite Spektrum von Evans.

Walker Evans – Schulverweigerer und Hobbyliterat

Walker Evans. iwanowski.blogEvans (s. Selbstporträt von 1928) wurde 1903 in St. Louis geboren, besuchte Eliteschulen an der Ostküste, begann ein Literaturstudium in Chicago und ging 1923 nach Paris. Dort befasste er sich intensiv mit den in den 1920ern noch wenig bekannten Autoren der europäischen und amerikanischen Moderne. Gustave Flaubert, Charles Baudelaire, Proust, James Joyce oder T.S. Eliot gaben Anstöße bei der Entwicklung seiner eigenen fotografischen Ästhetik, die von Realismus und Objektivität geprägt war.
In den 1930er-Jahren begann Evans in den USA eine Laufbahn als Fotograf, erst mit einer einfachen, kleinen Klappkamera, später arbeitete er mit einer große Plattenkamera und am Ende wieder im Kleinbildformat, dann sogar schon in Farbe – ein Medium, das in der künstlerischen Fotografie bis dahin unbekannt war. WalkerEvans PolaroidIceCream. iwanowski.blogSpeziell in der „farbigen“ Spätphase wandte er sich den „Nahaufnahmen“ zu, fotografierte Schilder, Baudetails und Alltagsgegenstände.
Evans war dazu ein Sammler von Postkarten, Schildern und anderer Ephemera, interessiert an Werbegrafik und Typografie. Seine Obsession für Wörter und Zeichen führte dazu, dass er sich selbst als „Entdecker der Pop Art“ betrachtete. Nach seiner langjährigen Tätigkeit bei „Fortune“ unterrichtete Evans ab 1965 an der Yale University in New Haven/Conneticut und verstarb dort 1975.

Ausstellung im Josef Albers Museum in Bottrop

Es ist einmalig, dass sich ein relativ kleines und weniger bekanntes Museum in Deutschland mit einem weltberühmten Künstler und dessen Nachlass befasst, der sich großteils im New Yorker Metropolitan Museum of Art befindet. Evans Ruhm ist heute unumstritten und selbst wenn er immer als Porträtist der armen Landbevölkerung im amerikanischen Süden in Erinnerung bleiben wird, gelingt es diesem gut aufgemachten Katalog in 14 Kapiteln zu den einzelnen Bilderserien und mit eingestreuten Essays umfassend über die Persönlichkeit Walker Evans und die Bandbreite seiner Arbeiten zu informieren.

Walker Evans Tiefenschaerfe von John HillWalker Evans. Tiefenschärfe. Die Retrospektive; Ausstellung im Josef Albers Museum (Museumszentrum Quadrat, Im Stadtgarten 20, Bottrop) vom 27. September 2015 – 10. Januar 2016, www.bottrop.de/mq
• John T. Hill, Heinz Liesbrock (Hrsg.), Walker Evans. Tiefenschärfe; Katalog zur Ausstellung, 408 Seiten mit 400 Abbildungen, ISBN: 978-3-7913-8222-7, Prestel Verlag München 2015.

©  Text: M. Brinke – P. Kränzle, Fotos: Prestel Verlag (Buchcover) bzw. Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop.

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